Mehr Markt und weniger Staat im Gesundheitswesen?

Cornelia Heintze

Im Gesundheitswesen wird derzeit wieder heftig um das richtige Maß zwischen Markt, Staat und der Eigenverantwortung der BürgerInnen gerungen. Dabei verlangt dieses hochkomplexe Gebilde differenzierte Antworten, die quer zur schlichten Markt-contra-Staat-Antwort liegen. Im internationalen Vergleich finden wir ganz unterschiedliche Ausprägungen von Gesundheitssystemen. Dies ist schon für sich alleine bedeutsam.

Unter den westlichen Industrieländern lassen sich drei Grundtypen herausdestillieren:

  1. ein staatliches, im wesentlichen steuerfinanziertes Gesundheitswesen;
  2. ein Mischsystem, bei dem der Staat die medizinische Versorgung der Bevölkerung garantiert, Finanzierung und Leistungserbringung jedoch Selbstverwaltungseinrichtungen überlässt;
  3. ein Mischsystem mit starken Marktelementen und eng begrenzter Staatsgarantie.

Vergleicht man diese Systeme, zeigt sich, dass Länder, die nahe am Grundtyp 1 liegen, mit die besten Ergebnisse aufweisen. So liegt beim staatlichen schwedischen Gesundheitssystem der Anteil der gesamten Gesundheitsausgaben am BIP mit 7,9 % knapp unter EU-Durchschnitt und die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben (öffentlich plus privat) unterschritten Ende der 90er Jahre das deutsche Ausgabenniveau um knapp ein Drittel. Gleichzeitig resp. trotz der vergleichsweise geringen Ausgabenintensität erzielt Schweden gute Werte bei den Basisgesundheitsindikatoren. Umgekehrt führt das am stärksten marktwirtschaftlich geprägte Gesundheitswesen, das der USA, genau nicht zu einem effizienten Ressourceneinsatz, sondern zur Fehllenkung und Ressourcenvergeudung. Die Gesamt-Gesundheits-ausgaben lagen pro Einwohner 1998 zweieinhalb mal so hoch wie in Schweden. Weltweit leisten sich die USA das teuerste Gesundheitswesen. Die starke Marktorientierung führt zu hoher Ausgabenintensität bei schlechter Performance. In einem Vergleich der WHO, wie viel Lebenszeit die Menschen in ihren 191 Mitgliedstaaten bei guter Gesundheit verbringen, belegte Schweden hinter Japan, Australien und Frankreich Platz 4, während die USA abgeschlagen auf Platz 24 landeten. Der faktische Ausschluss benachteiligter Bevölkerungsgruppen (Indianer, Slumbewohner in den Städten usw.) von medizinischen Versorgungsleistungen findet hierin seinen Niederschlag.

Auch im Gruppenvergleich der Systemtypen „Staatliches Gesundheitswesen“ contra „Mischsysteme mit Staatsgarantie“ schneiden die staatlichen Gesundheitssysteme tendenziell besser ab. So liegt innerhalb der EU der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP hier unter und bei den Mischsystemen über EU-Durchschnitt. Während die teilweise beachtlichen Differenzen auf der Outcome-Seite (Gesundheitsindikatoren) auf eine Vielzahl von Faktoren auch jenseits des Systemtyps verweisen, gelingt die Ausgabenbegrenzung und der effiziente Mitteleinsatz im Rahmen eines staatlich organisierten Gesundheitssystems offensichtlich besser. Dies freilich um den Preis deutlicher Beschränkung freier Wahlmöglichkeiten sowohl auf Seiten der Patienten wie auf Seiten der Ärzte.

Wie das Beispiel Großbritannien lehrt, kann aus diesen Befunden nicht leichtfertig die grundsätzliche Überlegenheit eines staatlich organisierten Gesundheitswesens abgeleitet werden,. Wenn der Staat sein Gesundheitswesen vernachlässigt, indem er aus Kostenbegrenzungsgründen Unterkapazitäten zulässt, notwendige Modernisierungen unterlässt usw., erodiert die Basis des staatlichen Gesundheitssystems, weil die einkommensstarken Gruppen und die besonders qualifizierten Ärzte in einen wachsenden Privatsektor ausweichen. Steuerfinanzierte staatliche Gesundheitssysteme sind nur dann überlegen, wenn sie als harmonischer Teil eines gleichgelagerten systemischen Gesamtkontextes über genügend built-in-flexibility und zugleich über Mechanismen zur Stärkung der Selbstheilungskompetenz von Patienten verfügen. Dies schließt ein, dass es einen politischen Konsens über eine entsprechend hohe Staats- und Steuerquote geben muss. Auf der einen Seite als Traditionsrelikt ein staatliches Gesundheitswesen vorzuhalten und auf der anderen Seite durch eine neoliberale Politik dem Staat seine Gestaltungskompetenz und Finanzierungsbasis zu entziehen, kann dauerhaft nicht funktionieren.

Was heißt das für Deutschland?

Lange wurde seitens der ärztlichen Standesvertreter wie auch der Gesundheitspolitiker aller Couleur die Legende gepflegt, das deutsche Gesundheitswesen sei das beste der Welt, zumindest jedoch eines der besten. Tatsache dagegen: Deutschland leistet sich innerhalb der EU das teuerste und weltweit im Wettstreit mit der Schweiz das zweit- resp. drittteuerste Gesundheitswesen, ohne jedoch bei der allgemeinen Volksgesundheit und ihrer Verteilung gute Resultate zu erzielen. Bei der WHO-Untersuchung „The World Health Report 2000“ belegte es vordere Plätze bei den Indikatoren Patientenorientierung und solidarische Lastenverteilung. In den Zielbereichen Gesundheitsstand der Bevölkerung nach Niveau und Verteilung kam es dagegen noch nicht einmal unter die 20 Besten.

Auch wenn wir sehen müssen, dass die Indikatorenwahl immer Wertentscheidungen beinhaltet und damit anfechtbar ist, kann eines nicht bestritten werden: Das deutsche Gesundheitssystem leidet nicht unter einem Geld-, sondern unter einem Qualitätsproblem. In krassem Gegensatz dazu ist die Gesundheitspolitik seit nunmehr gut 20 Jahren auf die Frage fokussiert, wie die „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“ so gedämpft werden kann, dass Beitragsstabilität erreicht wird. Das, was neoliberale Gesundheitsökonomen aktuell an marktideologischen Rezepten anbieten, ist kaum weniger fehlgeleitet. Die Empfehlungen zielen statt auf den überfälligen Paradigmenwechsel von der Kostendämpfungs- zur Qualitätspolitik auf eine Entsolidarisierung der Finanzierung via Kopfprämien, Leistungsausgrenzungen usw.

Auch die Argumente, die üblicherweise angeführt werden, um zu begründen, warum medizinische Leistungen immer teurer werden mit der Folge, dass es eine solidarisch finanzierte Vollversorgung künftig eben nicht mehr geben könne – Alterung der Bevölkerung, medizinischer Fortschritt, Luxusmedizin -, sind bei näherer Betrachtung zumindest zu relativieren: Sicher stellt die Überalterung der Bevölkerung eine große Herausforderung für jedes Gesundheitssystem dar, weil die Krankheitsanfälligkeit mit dem Alter steigt. Die Kosteneffekte der demographischen Entwicklung werden jedoch weit überschätzt und lassen sich, wie das Beispiel von Finnland zeigt, durch Präventionsprogramme deutlich mindern. Auch die kostentreibende Wirkung des medizinischen Fortschritts verlangt nach einer differenzierten Betrachtung. Einerseits wirken neue diagnostische und operative Verfahren kostentreibend, andererseits gibt es auch einen kostensenkenden medizinischen Fortschritt in Form von technischen Innovationen (Mikrochirurgie) und neuen Behandlungsverfahren. Durch Kombination von schulmedizinischen und alternativen Verfahren lassen sich teilweise sowohl bessere Behandlungserfolge erzielen als auch Kosten sparen.

Dass die volle Kostenübernahme durch die Kassen, zumal nach dem Sachleistungsprinzip zur extensiven Nachfrage von Arztleistungen führt, halte ich dagegen für erwiesen. Schätzungen besagen, dass ca. jeder zweite Patient, der in deutschen Wartezimmern anzutreffen ist, auch ohne jede ärztliche Hilfe schnell wieder genesen würde. Eine der wesentlichen Fragen ist also, wie kann man das Gesundheitswissen und die Selbstheilungskompetenz der Bevölkerung so erhöhen, dass die Zahl medizinisch nutzloser Arztbesuche, die immer mit diagnostischen und therapeutischen Leistungen einhergeht, abnimmt. Sie stellt sich unabhängig davon, welcher Grundtyp von Gesundheitswesen in einem Land vorliegt. Auch ein „staatliches Gesundheitswesen“ muss nicht bedeuten, dass Leistungen gratis angeboten werden. So dienen das schwedische Modell einer Pauschalgebühr pro Arztbesuch ebenso wie das französische Modell, bei dem Patienten die ärztliche Sprechstundengebühr vorfinanzieren müssen, der Begrenzung überflüssiger Leistungsinanspruchnahme.

Überflüssigen Arztbesuchen entgegenzuwirken ist umso wichtiger, als auch auf Seiten der Ärzte starke Anreize für überflüssige Diagnostik und Übertherapierungen bestehen, die dem Patienten im Zweifel mehr schaden als nutzen und in jedem Fall viel Geld kosten.Die in Deutschland praktizierte Vergütung nach Einzelleistungen führt dazu, dass Ärzte umso mehr verdienen, je mehr Einzelleistungen sie erbringen. Für die angestellten Ärzte in den staatlichen Gesundheitssystemen oder für die Ärzte, die in Ländern mit Mischsystemen lediglich nach einer Kopfpauschale oder zeitabhängig bezahlt werden (Niederlande, Frankreich), gibt es dagegen keinen Anreiz, diagnostische und therapeutische Leistungen über das medizinisch Sinnvolle hinaus zu erbringen oder zu verordnen, da sich dies nicht einkommenserhöhend auswirkt. Was Wunder, dass in diesen Ländern erheblich weniger Röntgenaufnahmen gemacht werden, der Herzkatheter seltener zum Einsatz kommt und von Blinddarm bis By-Pass auch die Operationshäufigkeit geringer ausfällt.

Die Zuzahlungsregelung zu Einzelleistungen führt hingegen kaum zur Stärkung der Selbstverantwortung und einem rationaleren Umgang mit medizinischen Angeboten. Wer Medikamente üblicherweise wegwirft, mag zwar einen Anreiz erhalten, das ärztliche Rezept gar nicht einzulösen. Auf der anderen Seite wird jedoch auch taktisches Verhalten begünstigt nach dem Motto: Wenn ich schon zuzahlen muss, will ich wenigstens eine so große Menge, dass sich die Zuzahlung für mich lohnt.

Folgende Defizite und Fehlsteuerungen sollte die Gesundheitsreform zu beheben suchen:

  1. Das beitragsfinanzierte deutsche Gesundheitswesen krankt finanzierungsseitig weniger an der vermeintlichen „Kostenexplosion“ als daran, dass die Bemessungsgröße Lohn seit Jahren weniger stark wächst als das Sozialprodukt und die Bemessungsgrundlage nicht breit genug gestaltet ist. Es gibt also einen Reformbedarf bezogen auf die Finanzierungsbasis, wobei sich von Ansätzen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen etwa durch Einbezug der Beamten bis hin zum Systemwechsel (Übergang zur teilweisen Steuerfinanzierung) verschiedene Alternativen eröffnen.
  2. Die Entkoppelung zwischen Finanzierung und Leistungserstellung führt zusammen mit dem auf der Vergütung von Einzelleistungen basierenden ärztlichen Honorarsystem zur Vergeudung von Ressourcen durch Über- und Fehltherapierung. Die Einzelleistungsvergütung belohnt die Ärzte, die ihre Patienten in Dauerbehandlung halten. Versuche, die Fehlsteuerung durch Änderungen am Honorarsystem zu beheben, sind restlos gescheitert, weil die Ärzte auf den Punktwertverfall bei bestimmten Einzelleistungen jeweils mit Mengenausweitungen sowie der Substitution durch solche Leistungen reagieren, die in der Vergütung angehoben wurden. Abhilfe kann hier nur ein Systemwechsel bringen (feste Gehälter oder Kopfpauschalen).
  3. Die Dominanz der Fachärzte, die meist nur Spezialisten für ein bestimmtes Organ sind und daher auch nur das kranke Organ, nicht aber den kranken Menschen sehen, hat teure Folgen. Vorteile haben innerhalb der Ländergruppe mit Mischsystemen diejenigen Länder, die wie die Schweiz Hausärzte als wirksame Gesundheitslotsen einsetzen. Der Übergang zu einer Versorgung, bei der den Fachärzten nur eine ergänzende Rolle zugewiesen wird, wird sich freilich ebenso wie der Übergang zu einem neuen Vergütungssystem kaum mit, sondern nur gegen die heutigen KV´s realisieren lassen.
  4. Das deutsche Gesundheitssystem ist krankheits- und nicht gesundheitsorientiert. Vernachlässigt werden Gesundheitserziehung und Gesundheitsprävention. Auch fehlt jede Art von Qualitätssicherung und Erfolgskontrolle.
  5. Statt die verschiedenen Bereiche (ambulante, stationäre und nach-stationäre Versorgung) im Sinne einer Ergebnisoptimierung miteinander zu verzahnen, leistet sich das deutsche Gesundheitswesen eine weitgehende Abschottung bis hin zum Gegeneinanderarbeiten. Dies führt zu teuren Doppel-untersuchungen, zum Bruch von Behandlungsketten und zur bei vielen Krankheiten insgesamt ineffizienten Behandlung.
  6. Während in vielen Ländern, auch in solchen mit Mischsystemen der Arzneimittelsektor staatlicher Regulierung unterliegt, ist die Macht der Pharmaindustrie in Deutschland ungebrochen. Die immer wieder gescheiterte Eindämmung der Arzneimittelkosten belegt das eindrücklich.

Abstract:

Entgegen der öffentlichen Diskussion um die Notwendigkeit von mehr Markt und weniger Staat besteht die Schlüsselfrage für die Zukunft des fehlgesteuerten deutschen Gesundheitswesens darin, ob Staat und Politik fähig und bereit sind, gegen die mächtige Lobby der ärztlichen Verbandsvertreter neue Versorgungs- und Vergütungssysteme (Abschaffung der Einzelleistungsvergütung, Vergütung nach Qualitäts- und Erfolgkriterien, Qualitäts- statt Kostendämpfungspolitik), gegen die mächtige Lobby der Pharmaindustrie eine wirksame Arzneimittelregulierung usw. durchzusetzen. Teilweise wird dies mehr Markt und mehr Wettbewerb (z.B. Beendigung des KV-Versorgungsmonopols, Wettbewerb zwischen traditionellen und integrierten Versorgungsangeboten) und auch eine Stärkung der Gesundheitskompetenz der Patienten bedingen. Teilweise sind jedoch sowohl schärfere als auch andere staatliche Eingriffe erforderlich, als heute praktiziert. Zukunftsweisende Reformimpulse findet grüne Gesundheitspolitik hierfür sowohl im skandinavischen Raum wie auch in einer Reihe von Ländern mit Mischsystemen wie Frankreich, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden.

In: Bündnis90/DIE GRÜNEN (Hrsg.): Sozial ist nicht egal – Zukunftskongress-Reader, Mai 2003, S. 43 – 46